Framing space – Jerusalem
Ausstellung: 04. – 29. Dezember 2015
Eröffnung: Donnerstag, 03. Dezember, 19 – 21 Uhr, Einführung: Dr. Hans Hoffmann, Historiker
Adresse: WHITECONCEPTS | Auguststraße 35 | 10119 Berlin | www.whiteconcepts.de
WHITECONCEPTS freut sich, die deutsch-italienische Künstlerin Susanne Kessler in einer Einzelausstellung zu präsentieren. Nach einer Tour, die im März 2015 begann, wird ihr Jerusalem-Projekt nun in Berlin vorgestellt. Die Ausstellungsstationen umfassten „Die sieben Hügel von Jerusalem“, kuratiert von Vincenzo Mazzarella und Paolo Bielli, in der Kirche Santa Lucia del Gonfalone in Rom, gefolgt von „The Jerusalem-Projekt“ im April 2015 während der Off Course – Art Fair in Brüssel, organisiert durch den Kurator Antonio Nardone. Ihre Installation „Jerusalem“, kuratiert von Jack Rasmussen, wird am 7. November in dem American University Museum des Katzen Art Center in Washington/DC eröffnet.
Bekannt wurde Susanne Kessler mit ihren raumgreifenden, organisch wirkenden Installationen. Seit den frühen 1980er Jahren sucht sie nach neuen Möglichkeiten, um Malerei oder Zeichnung plastisch werden zu lassen.
Mit ihrer Installation „Jerusalem“ setzt Susanne Kessler ihre Erforschung jenes metaphysischen und organischen Substrats fort, das menschliches Handeln durchwirkt und formt, und gibt eine prophetische Stimme über den Zustand der heiligen und notleidenden Stadt zu bedenken. Kesslers Faszination für kulturellen Wandel und die zahllosen visuellen Formen, die genutzt werden, um diesen zum Ausdruck zu bringen, wurde nicht zuletzt dadurch geprägt und bereichert, dass sie seit über dreißig Jahren in der uralten Stadt Rom lebt. Die Ablagerungsschichten der Zeit sind in Rom allgegenwärtig und sichtbar; seit Jahrhunderten kommen Scharen von Historikern, Wissenschaftlern und Künstlern in die ewige Stadt, um ihre Geschichte zu studieren und aus ihr zu lernen.
Wie Rom ist auch Jerusalem eine Stadt der Schichten, die stetem Wandel unterworfen sind. Als Brücke zwischen Ost und West ist sie die Heimat der drei großen Religionen des Judaismus, des Islams und des Christentums, und damit die Quelle sowohl ihrer größten Geschenke als auch ihrer kaum lösbaren Probleme. Die zum Teil mit Gewalt ausgetragen Konflikte, die das gegenwärtige Jerusalem in Atem halten, sind allerdings nicht als gegeben hinzunehmen. Noch im 19. Jahrhundert, was nicht lange her ist, lebten Juden, Muslime und Christen friedlich und gemeinschaftlich in der heiligen Stadt miteinander. Heute halten sie Gläubige aller Konfessionen für „das Auge des Universums“ im Zentrum der Schöpfung und den Ort, an dem sich die Offenbarung erfüllen wird. Was ist das für eine Stadt, die auf der einen Seite so tiefe Einsichten in die großen Mysterien birgt und fokussiert, während sie auf der anderen Seite so viel Leid hervorruft wie kaum ein anderer Ort in der Welt?
Kessler nähert sich dieser Frage wie eine Alchimistin, die mit stofflichen Formen innere Wahrheiten auslotet. Als sie sich der Aufgabe stellte, dem Wesen Jerusalems auf die Spur zu kommen, sichtete sie zunächst eine topographische Karte der Stadt aus dem 19. Jahrhundert. Solche Karten sprechen das Wechselspiel zwischen menschlichem Bemühen, Landformen, Wetterverhältnissen und der Ökologie von Flora und Fauna an. Sie spiegeln die Dialektik menschlichen Einfallsreichtums und seiner Triumphe wie Torheiten, die noch sichtbar sind in den freigelegten, auf die schriftlich dokumentierten Zeitläufe der Stadt bezogenen Schichten, das Auf und Ab ihrer Geschichte. Kesslers kartographische Quelle bringt solche bidirektionalen Adaptierungen organischer Naturformen und starr rechtwinklig urbaner Strukturen sinnfällig zum Ausdruck. Sie folgt den gewundenen, verworrenen Linien, durchmisst die Stadt mit Auge und Hand und spürt ihr als einem lebendigen Organismus nach, der aus einem jahrhundertealten Prozess permanenter Metamorphose gebildet ist.
Ihrem Impuls über die Grenzen der Vorlage hinaus folgend, erweitert Kessler ihre Untersuchungen In ihrer Ausstellung in Washington in die dritte Dimension, indem sie ein Netz aus verdrillten Plastiktüten, Klebeband, Kabeln und Drähten spinnt. Als intonierte sie ein Mantra oder Gebet, folgt sie den Linien immer und immer wieder und zieht den abstrakten Rhythmus der Stadt an die Oberfläche und daraus hervor. So erhebt sich über der Karte in ihrem distanziert analytischen Blick auf die Stadt eine organische Körperform als Derivat einer alchimistischen Mixtur aus Farben. Im kostbaren Silber und Gold schwingt Hoffnung mit, das verkohlte Schwarz erinnert an Gewalt und Unfriede. Nichts bleibt außen vor, alles wird als Wahrheit dieser komplexen Stadt miteinbegriffen, der sowohl die starren, scharfen Dornen der Furcht angehören wie auch die leuchtenden Bänder des Glaubens, der Kooperation über alle Unterschiede hinweg und des Versprechens auf Liebe. Kessler streift diese „Häute“ aus Drahtgeflecht von den darunterliegenden Wandzeichnungen ab – gleich einer Schlange, die sich häutet, um in eine neue Wachstumsphase überzugehen. Das Ergebnis ist ein dichtes und doch luftiges Netz aus rhythmisch schwingenden Linien, die frei im Raum schweben und den Eindruck unendlicher Multiplikation und Extension erwecken. Es erinnert an lebendige Systeme wie die neuronalen Bahnen im Gehirn, die Botschaften von einem Körperteil in einen anderen übermitteln, oder wie Myzelien, die Nährstoffe und Heilmittel in toxische Gebiete und Lebensverbände transportieren.
Einundzwanzig dreieckige, mit Pergament verkleidete Objekte evozieren nun in Berlin die akkumulierte Weisheit der Kulturen Jerusalems. Ihre Formen erinnern an islamische Spiegelmosaike, christliche Reliquienschreine und jene Behältnisse, in denen koptische Christen ihre Bibeln aufbewahren. Die Nummer 21 deutet auf die drei Religionen und die sieben Hügel der Stadt hin.
Jerusalem, herzzerreißendes Lamento und Psalm voller Lob und Hoffnung zugleich, durchkreuzt simple, binäre Formeln und weist Schuldzuweisungen, Urteile und alle Verzweiflung darüber zurück, was unveränderlich erscheinen mag. Kessler findet stattdessen Inspiration im historischen Prozess, der vom Wandel geprägt ist, und nimmt die in Jerusalem aufeinander treffenden Glaubensbekenntnisse ernst, um eine komplexe Allegorie dieser außergewöhnlich potenten Stadt anzubieten und aufmerksam zu machen auf ihre zahlreichen Quellen für aktive, lebendige vernetzte Hoffnungen auf einen Frieden, der menschliche Grenzen und Konstruktionen überschreitet. Text: Sarah Bliss, Übersetzung: Michael Windgassen
Susanne Kessler wurde 1955 in Wuppertal geboren und lebt und arbeitet in Rom und Berlin. Sie studierte Bildende Kunst an der UdK in Berlin und am Royal College of Art in London (MA). Ihre Werke wurden in mehr als 60 Soloshows gezeigt. Sie wurde mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem DAAD-Stipendium, dem Paul-Strecker-Award der Stadt Mainz und der Kaiserring-Bewilligung der Stadt Goslar. Ihre mehrfachen Studienreisen führten sie durch Europa, Indien, Pakistan, Mali, Äthiopien, Guatemala sowie in die USA. 2001 und 2002 erhielt sie eine Gastprofessur für Installation und Zeichnung an der University of California, gefolgt von einer Gastprofessur an der Kunstakademie in Riga 2010. Von 2011 bis 2013 wirkte sie ebenfalls als Gastprofessin an der City University New York. Ihre Arbeiten sind in zahlreichen, öffentlichen Sammlungen in Europa und Amerika sowie in etlichen Privatsammlungen vertreten.
Das Buch „Framing Space“, das kürzlich im Distanz Verlag erschien, ist in der Galerie erhältlich. Es zeigt die wichtigsten Skulpturen und Installationen der letzten 30 Jahre und bietet einen retrospektiven Einblick in die Arbeit von Susanne Kessler, mit Beiträgen von Achille Bonito Oliva, Vincenzo Mazzarella und Johannes Nathan.